Ein Loch im Milchzahn.

Studien belegen ein massives Kariesproblem bei Kindern. Andere Untersuchungen behaupten genau das Gegenteil. Was aber stimmt?

In den 80er-Jahren behandelten Zahnärzte bei zwölfjährigen Kindern in Deutschland durchschnittlich sieben Kariesbefunde. Nach der Jahrtausendwende war dieser statistische Wert laut der vierten Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS IV) auf 0,7 gesunken. Das entspricht einem Rückgang von bemerkenswerten 90%. Da verwundert es nicht, wenn Zahnmediziner in der Bekämpfung der Karies eine medizinische Erfolgsgeschichte sehen. Fühlt man diesen Zahlen allerdings auf den Zahn, offenbaren sich einige faule Stellen.

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Frühkindliche Zahnschäden

Während Erwachsene und Jugendliche in Deutschland immer gesündere Zähne haben, scheint sich Karies bei Kleinkindern gegen den Trend zu einem ernsthaften Problem zu entwickeln. Wolfgang Eßer, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, beschreibt Milchzahnkaries in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung als die mittlerweile „häufigste Erkrankung von Kleinkindern“. Sie trete fünfmal häufiger als Asthma und siebenmal häufiger als Heuschnupfen auf. Die Bundeszahnärztekammer hält die Situation sogar für „verheerend“. Immer häufiger bedürfen schon zwei- und dreijährige Kinder schwerwiegender Behandlungen wie Wurzelfüllungen oder Extraktionen von Milchzähnen unter Vollnarkose. Die Lebensqualität der Kinder wird durch Karies massiv eingeschränkt. Neben den akuten Schmerzen beeinträchtigt der frühe Verlust von Milchzähnen auch das Kauvermögen, die Entwicklung der Sprache und des bleibenden Gebisses. Kinder mit frühkindlicher Karies entwickeln auch im Erwachsenengebiss signifikant mehr Karies.
Dennoch werden in Deutschland bisher keine bundesweiten Zahlen zur Zahngesundheit bei Kleinkindern erhoben. Große nationale Studien wie die DMS sparen zwei- und dreijährige Kinder aus, auch die derzeit in der Auswertung befindliche fünfte Auflage enthält für diese Altersgruppe keine Daten. Anhaltspunkte liefern nur regionale Erhebungen, wie beispielsweise eine mehrjährige Studie in Hessen. Der dort ermittelte Anteil von mehr als 15% Kariesbefunden bei Dreijährigen deckt sich mit den Ergebnissen von Studien in anderen Regionen. Der Statistiker Prof. Rafael Weißbach, Inhaber des Lehrstuhls für Statistik und Ökonometrie an der Universität Rostock, analysierte diese regionalen Verteilungen jüngst erstmals, um aus diesen Daten eine bundesweite Verteilung abzuleiten. Mit der mathematischen Methode der sogenannten randomisierten Clusterstichprobe errechnete der Forscher zusammen mit Zahnmedizinern der Universität Heidelberg für durchschnittlich jedes zehnte Kleinkind in Deutschland einen Kariesbefund. Belegt dieser Wert aber tatsächlich die von den Zahnmedizinern als verheerend beklagte Lage? Zunächst offenbaren die Daten im zeitlichen Verlauf einen deutlichen Rückgang: In Hessen waren zum Beispiel vor 50 Jahren noch 70% der Vorschulkinder von Karies betroffen. Warum also die ganze Aufregung?

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Schiefe Verteilung

Die Statistik lügt nicht, zeigt aber auch nicht die ganze Wahrheit. Wie in einem gesunden Gebiss durchaus ein schiefer Zahn stecken kann, so trüben punktuelle Probleme den positiven Gesamteindruck der Kariesstudien. In der Wissenschaft wird von einer Schiefverteilung gesprochen. Gemeint ist in diesem Fall, dass ein sehr kleiner Teil der Kinder von der Symptomatik besonders schwer betroffen ist.
So konzentrieren sich mehr als 50% aller Kariesfälle auf kaum 2% der Kleinkinder, betroffen sind vor allem jene aus sozial schwachen und bildungsfernen Familien mit oft sehr jungen Eltern. In diesem Milieu trifft das Wort „verheerend“ durchaus die gegenwärtige Situation: Bis zu 40% dieser Vorschulkinder haben Karies. Häufigste Ursache ist die falsche bis gänzlich vernachlässigte Zahnpflege sowie fehlende Fluoridprophylaxe. Eine zuckerreiche Ernährung oder das permanente Saugen an der Nuckelflasche, gefüllt mit süßem Saft oder gesüßtem Tee, gelten als weitere Risikofaktoren.

Frühere Standarduntersuchungen

Den Ausweg aus diesem Dilemma sehen Zahnmediziner in einer Ausweitung der Zahngesundheitsvorsorge. Ähnlich wie beim bundesweit einheitlichen Programm zur medizinischen Früherkennung bei Säuglingen und Kindern, den standardisierten Untersuchungen U1 bis U9, müsse auch der Zustand der Zähne regelmäßig überprüft werden. In Nordrhein-Westfalen ist ein zahnärztliches Kinderuntersuchungsheft seit November 2014 fester Bestandteil des in weiten Bevölkerungsschichten etablierten gelben U-Untersuchungsheftes. Die Barmer GEK kündigte an, bundesweit eine zahnärztliche Früherkennung ab dem sechsten Lebensmonat für ihre Versicherten einzuführen. Bislang setzen zahnmedizinische Präventionsleistungen der gesetzlichen Krankenkassen erst ab dem 30. Lebensmonat ein.
Dass diese Maßnahmen unbedingt nötig sind, bekräftigt auch Susanne Steppat, Präsidiumsmitglied beim Deutschen Hebammenverband. In einem Interview mit der ZEIT sagte sie: „Nach der Geburt interessieren sich Mütter besonders stark für Informationen, die die Gesundheit ihrer Babys betreffen. Die Erfahrungen der Hebammen zeigen jedoch, dass die Mütter dabei zu selten an die Mundhygiene denken.“

Prävention frühkindlicher Karies:

Maßnahmenkatalog der Bundeszahnärztekammer und der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung:

• Verbindlicher Hinweis auf zahnärztliche Früherkennungsuntersuchung ab dem sechsten Lebensmonat im ärztlichen Kinderuntersuchungsheft

• Besonders intensive zahnmedizinische Betreuung zwischen dem 12. und 30. Lebensmonat.

• Aufklärung über Hygienemaßnahmen und Zahnputztechnik

• Ernährungsberatung

• Fluoridprophylaxe

Quellen:

Isaksson H, Alm A, Koch G, Birkhed D, Wendt LK (2013) Caries prevalence in swedish 20-years-olds in relation to their previous caries experience. Caries Research 47:234-242

Jordan RA, Becker N, Zimmer S (2012) Early childhood caries und Kariesrisiko im bleibenden Gebiss – Ergebnisse nach 14,8 Jahren. 26. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Zahnerhaltung, 20. – 21.4.2012 in Dresden, Autorenreferateband: P15

Institut der Deutschen Zahnärzte, im Auftrag von Bundeszahnärztekammer und Kassenzahnärztlicher Bundesvereinigung (2006) Vierte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS IV). http://www.bzaek.de/fileadmin/PDFs/presse/dms/brosch.pdf

Dürr K-G, Füllkrug A, Gnegel J, Graf P, Hartmann Th, Hesse U, Issing S, Menzel G, Müller-Balzarek R, Pollok R, Prenosil A, Seeger M, Schmidt-Schäfer S, Völkner-Stetefeld P, Wleklinski C, Wohner-Deul N (2014) Fünfte Querschnittsuntersuchung 3–5 jähriger in acht Landkreisen und drei kreisfreien Städten in Hessen. https://soziales.hessen.de/sites/default/files/media/hsm/5_querschnittsuntersuchung_kiga_12-13_hsm_2.pdf

Heyn G (2009) Kariesprophylaxe lohnt sich. http://www.pharmazeutische-zeitung.de/?id=30884
Kinder haben deutlich weniger Karies. http://www.stern.de/gesundheit/zaehne/aktuelles/studie-zur-zahngesundheit-kinder-haben-heute-deutlich-weniger-karies-2121372.html

Zeit online (2014) Zahnärzte warnen vor Karies bei Kleinkindern. http://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2014-02/karies-kleinkinder-milchzaehne

Bundeszahnärztekammer, Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (2014) Frühkindliche Karies vermeiden. http://www.bzaek.de/fileadmin/PDFs/presse/pk/140207/ECC_Konzept.pdf

Thiel W (2014) Mathematiker analysiert Zahngesundheit von Kindern. http://www.uni-rostock.de/detailseite/news-artikel/mathematiker-analysiert-zahngesundheit-von-kinder/

Robert-Koch-Institut (2008) Mundhygiene und Kariesprophylaxe. In: Robert-Koch-Institut (Hrsg.) Erkennen – Bewerten – Handeln. Zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. http://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Studien/Kiggs/Basiserhebung/GPA_Daten/Mundhygiene.pdf?__blob=publicationFile