Alles zu seiner Zeit.

Auf die Entwicklung eines Kindes wirkt die Kraft der Evolution mitunter stärker als der hohe Anspruch von Erziehung. Ein Kind lernt vor allem das, was es gerade braucht und wozu es zum jeweiligen Zeitpunkt in der Lage ist.

„Alles zu seiner Zeit“ – diese Lebensweisheit passt auch gut zur Entwicklung von Kindern. Die Frage zum Beispiel, wann ein Kind keine Windeln mehr braucht, lässt sich einfach beantworten: Wenn es soweit ist. Das ist nicht trivial, wie der Kinderarzt und Buchautor Herbert Renz-Polster meint. In seinem vielbeachteten Buch „Kinder verstehen. Born to be wild: Wie die Evolution unsere Kinder prägt“ führt er aus, dass das Heranwachsen nach einem evolutionären Programm abläuft und heutige Erziehungsparadigmen häufig Lernschritte einfordern, die Kinder in den jeweiligen Entwicklungsstadien noch gar nicht schaffen können [1].

1

Dies gelte zum Beispiel für den weitverbreiteten Glauben, Kinder würden selbstständig, wenn wir ihnen nur ein hohes Maß an Selbstregulation abverlangen, sie also frühzeitig selbst in den Schlaf finden, sich selbst trösten, von selbst durchschlafen oder eben auf den Topf gehen. Nur widerspricht ein solches Verhalten nach Ansicht von Renz-Polster mitunter den über Jahrmillionen in unseren Genen hinterlegten Informationen: „Ein Kind, das zufrieden gewesen wäre, dass man es irgendwo unter einen Baum legt, und sich gesagt hätte, jetzt schlafe ich ohne Protest ein, wäre von Hyänen verschleppt oder beim nächsten Temperatursturz unterkühlt worden.“

Die Reifung

Schlaf- und Schreiprobleme sind vor diesem Hintergrund überlebenswichtige Verhaltensweisen aus dem Werkzeugkasten der Evolution. Erziehung wird gleichzeitig zur aktiven Leistung des Kindes. Es greift nach seiner Umwelt, macht sich die Welt zu eigen, und zwar nach einem Fahrplan entlang der eigenen Bedürfnisse und Fähigkeiten. Verhaltensbiologen sprechen von genetisch angelegten Entwicklungspotenzialen, die zum passenden Zeitpunkt abgerufen werden. Dies gilt insbesondere für universelle Kompetenzen wie etwa Bilder zu erkennen, Laute zu unterscheiden, Kauen, Sitzen oder Laufen, die Kinder überall in der Welt in der gleichen Abfolge an Lernschritten erlangen. Renz-Polster nutzt dafür den Oberbegriff „Reifung“. Sie bedürfe keiner raffinierten Frühförderungen, es gebe nicht einmal wissenschaftlich belegte Hinweise darauf, dass sich diese Etappen durch Erziehungsmethoden überhaupt beschleunigen ließen.

1

Topf-Profis in Vietnam

Man kann also mit angestrengter Beharrlichkeit versuchen, dass ein Kind schon im zweiten Lebensjahr von allein auf den Topf geht – oder darauf vertrauen, dass es dazu spätestens mit 3,5 Jahren von selbst in der Lage sein wird, weil dann die dafür nötige Entwicklung von Körper und Nervensystem abgeschlossen ist. Das evolutionäre Entwicklungsprogramm ist dennoch keineswegs starr und geschlossen. Gerade der kulturelle Einfluss beschäftigt die Wissenschaft derzeit. So zeigt sich etwa, dass Kinder in Afrika ihren Altersgenossen in anderen Teilen der Welt motorisch voraus sind. Wissenschaftler der Sahlgrenska Akademie an der Universität Göteborg untersuchten wiederum Kinder in Vietnam, da dort auffällig früh auf Windeln verzichtet wird. Bereits im Alter von neun Monaten gingen alle Kinder der 2012 durchgeführten Studie auf den Topf, mit zwei Jahren war keines mehr auf Windeln angewiesen. Vietnamesische Mütter benutzen ein besonderes Pfeifen, um die Säuglinge an ihr „Geschäft“ zu erinnern oder dazu zu stimulieren. Zugrunde liegt ein ausgesprochen enges Verhältnis zwischen Müttern und Kindern [2].

Kinder lernen von Kindern

Herbert Renz-Polster sieht die Rolle von Eltern allgemein darin, altersgerechte Anregungen zu geben, damit das Kind seine angeborene Neugier einsetzen kann und darf. Kleinkinder suchen aus eigenem Antrieb die nötigen Erfahrungen, um sich Können, Wissen oder Verhalten anzueignen, das sie zum jeweiligen Zeitpunkt brauchen. Erste Chemieexperimente schon im Kindergarten sind eindeutig ein Angebot zur falschen Zeit. In dieser Entwicklungsphase benötigt der menschliche Lernmotor vor allem Raum zur Selbsterfahrung und den Kontakt zu Altersgenossen. In seinem Buch verweist Renz-Polster darauf, dass Kinder vor allem von der Umwelt und von anderen Kindern lernen, nicht von Erwachsenen oder Eltern. Statt mit Ambitionen können sich Eltern also vor allem mit Geduld auszeichnen. Auch Schreikrisen oder eingenässte Hosen sind in den ersten Lebensjahren ganz normal. Schieben Sie das einfach auf die Evolution.

Beispiele für einzelne Entwicklungsschritte

Spracherwerb:

Wissenschaftlern vom Hamburger Forschungszentrum für kognitive und kulturelle Entwicklung zufolge setzt der Spracherwerb zunächst die Erlangung der Fähigkeit zur Kommunikation voraus. Ein Kind muss lernen zu verstehen, was sein Gegenüber denkt und meint, bevor es die Sprache entwickelt. Nach zwei bis vier Monaten sind die neuronalen Strukturen eines Babys soweit entwickelt, dass es Vokale und später auch erste Silben produzieren kann. Nach fünf bis neun Monaten setzt das sogenannte kanonische Lallen ein, die Vorstufe zur Wortbildung, eine Fähigkeit, die mit 10 bis 14 Monaten erreicht wird. Der Entwicklungspsychologe Anthony Pellegrini von der Universität von Minnesota konnte zeigen, dass Kinder beim Spielen untereinander eine viel anspruchsvollere Sprache benutzen als mit Erwachsenen [3].

1

Laufen:

Die Grundformen der Bewegung im Säuglingsalter wie Kopf halten, sitzen, sich umdrehen, krabbeln, stehen und laufen sind in der Abfolge konstant. So rollt sich ein Kind erst von der Bauch- in die Rückenlage und umgekehrt, bevor es sich ohne Hilfe hinsetzen kann. Und erst danach wird es krabbeln. Ein sich schnell entwickelndes Kind macht dann bereits mit zehn Monaten seine ersten Schritte, ein anderes lässt sich damit fast doppelt so lange Zeit. Die Entwicklung verläuft individuell, offensichtlich auch populations- und zeitabhängig. Afrikanische Kinder zeigen einen Entwicklungsvorsprung gegenüber europäischen und nordamerikanischen Kindern und heutige amerikanische Kinder sind denen vor 40 Jahren in ihrer Entwicklung voraus [4]. Eine Ursache für den Vorsprung afrikanischer Kinder wird im Tragen durch die Eltern gesehen, während westliche Kinder meist liegend im Wagen geschoben werden.

Auf den Topf gehen:

Internationale Studien zeigen, dass Kinder durchschnittlich ab dem dritten Lebensjahr auf den Topf gehen. Die einen schaffen es aber schon im zweiten, andere erst im vierten Lebensjahr. Die neuronale Fähigkeit zur Hemmung der Entleerung der Harnblase entwickelt sich ab dem sechsten Lebensmonat. Das Harndranggefühl stellt sich zwischen dem 18. und 24. Lebensmonat ein, wenn sich die Nervenbahnen vom Gehirn zu Darm und Blase ausgebildet haben. Die Schweizer Sauberkeitsstudie von Remo Largo (2007) zeigt, dass 96 Prozent der Kinder, die in den 1950er-Jahren in der Schweiz geboren wurden, bereits am Ende des ersten Lebensjahres auf den Topf gesetzt wurden, von den in den 1970er-Jahren geborenen Kindern nur 20 Prozent. Unabhängig davon waren aber alle Kinder im Durchschnitt mit 28 Monaten „trocken“ [5].

Allgemeine Links:

Weichs B (2013) Entwicklungsschritte: Drehen, Krabbeln, Laufen. www.baby-und-familie.de/Entwicklung/Entwicklungsschritte-Drehen-krabbeln-laufen-258013.html
Krombholz H (2014) Die motorische Entwicklung im Kindesalter – empirische Ergebnisse. www.familienhandbuch.de/kindliche-entwicklung/entwicklung-einzelner-fahigkeiten/die-motorische-entwicklung-im-kindesalter-empirische-ergebnisse

Quellen:

[1] Renz-Polster H. Kinder verstehen. Born to be wild: Wie die Evolution unsere Kinder prägt, 6. Aufl. Kösel, München 2015
[2] Thi Hoa Duong, Ulla-Britt Jansson, Anna-Lena Hellström. Vietnamese mothers' experiences with potty training procedure for children from birth to 2 years of age. J Pediatr Urol 2013; 9 (6 Pt A): 808-814
[3] Pellegrini AD (2009) The Role of Play in Human Development. New York: Oxford University Press. psqtest.typepad.com/blogPostPDFs/201000685_psq_55-7_CriticalImplicationsOfTheRoleOfPlayInHumanDevelopment.pdf
[4] Appleton T, Clifton R, Goldberg S. The development of behavioral competence in infancy. In: Horowitz FD (ed.) Review of child development research (Vol. 4). Chicago: University of Chicago Press 1975, S. 135 ff
[5] Largo, R. (2008): Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren. München: Piper.