Die Biologie des Wachstums.

Groß werden alle Kinder. Aber wie funktioniert das eigentlich: Wachsen?

Was sich im Alltag in Form plötzlich zu kleiner Kleidungsstücke offenbart, funktioniert im Körper eines Kindes als hochkomplexes Zusammenspiel von Genen, Hormonen, Vitaminen und Mineralien, aber auch von Einflüssen wie der psychischen Gesundheit, Schlaf oder dem Lauf der Jahreszeiten. Das Wachstum ist einer der faszinierendsten Prozesse des Lebens. Er vollzieht sich bei jedem Individuum einzigartig, zeigt in der Summe vieler Menschen aber durchaus Gesetzmäßigkeiten, die sogar Rückschlüsse auf die sozioökonomischen Lebensbedingungen innerhalb einer Gesellschaft erlauben.

500 000 Zellen pro Minute

Bereits im Mutterleib bildet ein Embryo in den ersten Monaten pro Tag zum Beispiel mehr als 700 Millionen neue Nervenzellen. Damit verfügt ein Fötus bereits Mitte des vierten Monats wie Erwachsene über mehr als 100 Milliarden Nervenzellen. Die Verbindungen, sogenannte Synapsen, zwischen ihnen herzustellen, dauert allerdings bis weit nach der Geburt. Im dritten Lebensjahr verfügt ein Kind über mehr als zwei Billionen Synapsen, doppelt so viele wie später als Erwachsener. Die meisten anderen Gewebe wachsen auf zweierlei Wegen: Durch die Formation neuer Zellen und das Füllen vorhandenen Zellen mit mehr Protein oder anderen Materialien. Die Steuerung dieser zunehmenden Menge an Körpermaterial vollzieht sich in einer komplexen Dramaturgie, die bis in das Erwachsenenalter andauert und weit über die reine Zunahme an Länge und Masse hinausreicht. Sie beinhaltet die Differenzierung in die verschiedenen Organe, lässt zweifach angelegte Körperteile synchron wachsen und stoppt die oft fulminante Entwicklung just im richtigen Augenblick. Die Intensität dieser Prozesse verläuft wellenförmig. Zwischen dem 10. und 21. Lebenstag wächst ein Baby zum Beispiel besonders schnell. Die nächsten Wachstumssprünge ereignen sich nach sechs Wochen, dann nach drei und nach sechs Monaten. Bis zum ersten Geburtstag ist ein Baby etwa 25 cm größer geworden.

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Zuwachs an Körperlänge im zweiten Lebensjahr: 10 – 12
Zuwachs an Körperlänge im dritten Lebensjahr: 7 – 10 cm

Am dritten Geburtstag lohnt es sich ganz genau zu messen: Dann hat ein Kind durchschnittlich die Hälfte seiner späteren Körpergröße erreicht. Nach dem vierten Geburtstag pendelt sich das Wachstum auf circa fünf Zentimeter jährlich ein. Den nächsten Sprint legt der Körper zwischen dem sechsten und achten Lebensjahr ein, die Kinder schießen dann förmlich in die Höhe. Der vorerst letzte große Schub vollzieht sich in der Pubertät. Der Mensch ist das einzige Säugetier, das zum Zeitpunkt der sexuellen Reifung noch derart stark wächst. Jungen holen in dieser Zeit den körperlichen Vorsprung der Mädchen auf. Sie können in dieser „Pubertätsschuss“ genannten Phase das eigene Wachsen oft regelrecht fühlen: Als Schmerzen in den Schienbeinen, manchmal auch in den Oberschenkeln.

Herbstwachstum

In der Wissenschaft wird zwischen dem Gewichts- und Längenwachstum unterschieden. Beides kann sich unabhängig voneinander abspielen, ein Kind also in die Höhe schießen, ohne mehr auf die Waage zu bringen. Der Körper streckt sich buchstäblich.
Neben den genetisch festgelegten körpereigenen Wachstumsprogrammen wirken auch äußere Einflüsse, zum Beispiel die Jahreszeiten: Frühjahr und Sommer beschleunigen das Längenwachstum, im Spätherbst folgt die Gewichtszunahme und die Ausdehnung in die Breite. Einen anderen wichtigen Zusammenhang konnten Wissenschaftler der Emory University of Atlanta im Jahr 2011 nachweisen: In einer Studie an 23 Säuglingen im Alter zwischen vier und 17 Monaten untersuchten sie die Korrelation zwischen Schlaf und Wachstum. Es zeigte sich, dass die Anzahl der täglichen Schlafphasen sowie deren jeweilige Dauer in direkter Relation mit dem Längenwachstum der Kleinkinder stehen. Die Wahrscheinlichkeit für einen Wachstumsschub stieg nach jeder zusätzlichen Schlafepisode im Mittel um 43 Prozent, für jede Extrastunde Schlaf um 20 Prozent.

Wachstumsgesellschaft

Die exakte Erklärung dieses Zusammenhangs ist noch unklar. Bekannt ist aber, dass der Spiegel von 70 bis 80 Prozent aller Wachstumshormone im Schlaf ansteigt, was innerhalb von 48 Stunden nach dem vermehrten Schlafbedürfnis Wachstumsschübe auslöst, die 0,5 bis 1,65 cm täglich betragen können.
Eindeutig negativ beeinflusst wird das Strecken des Körpers durch Mangel wie etwa in Zeiten von Krieg oder Hunger. Selbst ältere Kinder offenbarten beispielsweise nach den Hungersnöten der beiden Weltkriege deutliche Rückstände in der Längenentwicklung. Ein Mangel an Vitaminen, vor allem Vitamin D, sorgt für ähnliche Effekte.
Wachsender Wohlstand führt daher auch immer zu einer schneller und größer wachsenden Gesellschaft. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird beispielsweise eine stete Zunahme von Körpergröße und dem Tempo der körperlichen Entwicklung beobachtet. Die Verbesserung der Ernährung, der hygienischen Verhältnisse sowie die Fortschritte der Medizin werden als Ursache diskutiert, allerdings schwächt sich der Trend der immer größer werdenden Bevölkerung in einigen Industrienationen gerade ab. Vor allem in vielen Regionen Nordeuropas und auch in Deutschland hat sich die Zunahme der Erwachsenengröße in den zurückliegenden 30 Jahren deutlich verringert. Ob dies bedeutet, dass wir einen Endpunkt erreicht haben oder nur ein temporäres Innehalten beobachten, wird noch diskutiert.

Größenordnung, die das Gehirn eines Zehnjährigen von seiner Endgröße erreicht hat. 95 %
Durchschnittliche Größenzunahme in den vier Jahren nach dem 13. Geburtstag bei Jungen. 15 cm
Durchschnittliche Größenzunahme in den vier Jahren nach dem 13. Geburtstag bei Mädchen. 4 cm
Gewicht, das Jungen im Alter von 17 Jahren durchschnittlich mehr als Mädchen wiegen. 10 kg
Durchschnittlicher Kopfumfang eines Kindes im 3. Lebensjahr. 50 cm
Größenordnung, die der Kopfumfang von Kindern im dritten Lebensjahr von seiner Endgröße erreicht hat. 90 %
Wert, um den deutsche Kinder und Jugendliche gleicher Geschlechts- und Altersgruppen durchschnittlich größer als amerikanische Kinder sind. 1 cm
Wert, um den der Taillenumfang amerikanischer Jungen gleicher Altersgruppen durchschnittlich größer als der von deutschen Jungen ist. 4 – 7 cm
Wert, um den der Taillenumfang amerikanischer Mädchen gleicher Altersgruppen durchschnittlich größer als der von deutschen Mädchen ist. 7 – 10 cm

Studien:
Michelle Lampl, Michael L. Johnson: Infant Growth in Length Follows Prolonged Sleep and Increased Naps, 2011, 34(5): 641–650.
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3079944/

H. Stolzenberg, H. Karl, K. E. Bergmann: Körpermaße bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland, KiGGS, 2007
http://edoc.hu-berlin.de/hostings/athenaeum/documents/oa/articles/refJdNvy1146/PDF/23a6P5aAcd06.pdf

Links:
http://www.britannica.com/science/human-development
http://www.aerzteblatt.de/archiv/64878/Groessenentwicklung-und-Pubertaet-bei-deutschen-Kindern

https://books.google.de/books?id=FiIbBgAAQBAJ&pg=PT35&lpg=PT35&dq=ein+embryo+bildet+pro+tag+millionen+zellen&source=bl&ots=_Dspl3Mp13&sig=_SU4TG9wb3IYERQY3tJ0g2RSGs4&hl=de&sa=X&ved=0CCkQ6AEwAmoVChMI2quCwfjXyAIVBQksCh27iw-g#v=onepage&q=ein%20embryo%20bildet%20pro%20tag%20millionen%20zellen&f=false