Sicherheit im Haushalt.

Daheim sind die Kinder am sichersten. Stimmt das wirklich? Laut einer Studie des Gesamtverbandes der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) ereignen sich mehr als die Hälfte aller Unfälle von Kindern zu Hause. Das sind mehr als doppelt so viele wie im Straßenverkehr.

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Aus der Perspektive eines Kindes ist ein großer silberner Topf auf dem Herd nicht unbedingt heiß, sondern zunächst einmal unheimlich spannend. Kleine Kinderarme recken sich, die Füße strecken sich, vielleicht findet sich noch ein Gegenstand, auf den sich klettern lässt – so ähnlich könnte sich ein typischer Unfall im Haushalt anbahnen. Vielleicht endet die Berührung des heißen Topfes nur mit einem Schrecken – kippt er aber um, könnte der kochende Inhalt zu ernsthaften Verbrennungen führen. Gefahren für Kinder lauern vor allem dort, wo man sie eigentlich in Sicherheit wähnt: zu Hause. Mehr als 60% aller Unfälle von Kindern ereignen sich im heimischen Umfeld. Weil es Kindern oft gelingt, in einem unbeobachteten Moment dem Herd nahezukommen, das Fensterbrett zu erklettern oder die Reinigungsmittel unter der Spüle zufinden.

Die Neugier von Kindern sollte man nicht unterschätzen. Das traute Heim ist daher kein Ort ohne Risiko, wenngleich genau das viele Eltern glauben. Laut der Umfrage des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft schätzen 82% der Eltern die Gefahr für Unfälle von Kindern im Haushalt als gering ein. Genauso viele (85%) sehen die größte Gefährdung im Straßenverkehr. Entsprechend verteilen sich Aufmerksamkeit und Sorge. Allerdings sprechen die Fakten eindeutig gegen diese Einschätzung: Im Straßenverkehr verunglücken Kinder nur halb so häufig wie in den eigenen vier Wänden.

Training in der Riesenküche

Diese Zahlen relativieren sich mit Blick auf die Lebensgewohnheiten: Säuglinge und Vorschulkinder verbringen schließlich die meiste Zeit zu Hause. Entsprechend naheliegend ist es, dass dort auch die meisten Unfälle passieren. Allgemein gilt: Die absolute Zahl von Unfällen sinkt, laut Daten des Statistischen Bundesamtes. Zwischen 2001 und 2010 sank sie bei Säuglingen um 31,4%, bei bis zu Vierjährigen um 37,3%. Deutschland liegt in der Statistik unter dem europäischen Durchschnitt, aber immer noch über den Werten der Vorzeigenation Schweden, dem Land mit der niedrigsten Unfallrate bei Kindern überhaupt. Es gibt also noch reichlich Potenzial in der Prävention. Ein erster Schritt wäre das genaue Verständnis der Gefahren. Gerade daran mangelt es aber in der Bevölkerung.

So erlebt es jedenfalls Inke Ruhe häufig. Die stellvertretende Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft „Mehr Sicherheit für Kinder e.V.” verweist auf eine Umfrage, die jüngst zusammen mit der AXA Versicherung erhoben wurde: Den größten Präventionsbedarf sahen die befragten Eltern demnach ausgerechnet für Cyber-Mobbing. „Unfallverhütung war überhaupt kein Thema.“

Auch die Wahrnehmung der tatsächlichen Unfallursachen ist oft verschwommen. So sehen nur 15% der befragten Erwachsenen Stürze als größte Gefahrenquelle an, mehr als die Hälfte aller Kinderunfälle sind aber genau darauf zurückzuführen. Wenn es darum geht, Dinge zu erreichen, sind Kinder oft sehr einfallsreich und mitunter auch zu wagemutig. In Großstädten häufen sich zudem Stürze aus Hochbetten oder ungesicherten Fenstern.

Um Eltern ein Gefühl für die Perspektive von Kleinkindern zu vermitteln, bietet die Bundesagentur für Kindersicherheit ein Training für Eltern in einer Riesenküche an. Die Möbel und Töpfe sind in den Dimensionen vergrößert, wie sie ein 18 Monate altes Kind in einer gewöhnlichen Küche wahrnimmt. Eltern kommen sich in dieser Umgebung wie geschrumpft vor und staunen dann, was sich alles erreichen lässt oder welche bedrohliche Größe ein simpler Kochtopf plötzlich haben kann.

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Gefahrenquelle Baby-Bett

In jüngster Zeit, so Inke Ruhe, sei auch ein Anstieg von Erstickungsfällen im Säuglingsalter zu beobachten. Als Gefahrenherde gelten zu dicke Decken oder zu große Kuscheltiere, die leicht über das Gesicht der Säuglinge rutschen. Auch die sogenannten „Nestchen“ im Kinderbett können zur Falle werden: Dreht das Baby den Kopf zu dicht an diese Polster, sind schnell die Atemwege blockiert. Schließlich birgt auch der Trend, Babys immer mehr Dinge ins Bett zu hängen, neue Risiken. Mit diesen Schnüren und Kleinteilen haben sich Säuglinge bereits stranguliert.

Auch in diesem Fall ist es die Neugier, der natürliche Motor der kindlichen Entwicklung, die die Babys in die Gefahrensituation treibt. „Babys tasten Gegenstände mit dem Mund ab“, erklärt Ruhe. Selbst Mediziner sind immer wieder erstaunt, welche großen Gegenstände Babys verschlucken können. „Das reicht bis zur Größe einer Kastanie, auch diese Gefahr wird von vielen Eltern total unterschätzt“, sagt Ruhe.

Gefahren erlernen lassen

Gleichzeitig bleibt der Befund einer besonderen Gefährdung im häuslichen Umfeld aber auch paradox. Schließlich wird Kindern heute so viel Aufmerksamkeit und Sorge zuteil, wie kaum jemals zuvor. Für jeden Bereich des Haushalts existieren professionelle Sicherungssysteme, für den Herd, die Treppe oder die Steckdose. Eltern treibt die permanente Sorge in Zustände gefühlter Dauerbewachung – und dennoch passiert noch immer so viel?

Eine Ursache liegt für Inke Ruhe darin, dass neben dem einen Extrem der übervorsichtigen Eltern zunehmend noch ein anderes existiert: die überforderten Eltern. „Gestresste Erwachsene zum Beispiel, die unter Zeitdruck stehen, bedeuten auch immer ein erhöhtes Unfallrisiko für Kinder.“

Welche Konsequenz sollten Eltern nun aus diesen Tatsachen ziehen? Noch mehr aufpassen, noch mehr Sicherheitsvorkehrungen? Inke Ruhe empfiehlt Aufmerksamkeit, aber auch Gelassenheit: „Man kann es auch zu gut meinen.“ Wer jede Gefahr von seinem Nachwuchs fernzuhalten versucht, es überall hinträgt, die Wohnung mit Sicherheitsgittern verbarrikadiert, nimmt den Heranwachsenden auch ein wichtiges Stück Freiheit. „Wir Erwachsenen müssen die Kinder vor Gefahren schützen, ihnen aber genauso den Umgang mit Gefahren lehren“, sagt Ruhe. „Kinder dürfen beim Toben hinfallen, auch mal die Treppe runterrutschen, das sind wichtige Erfahrungen im frühen Leben, die die Selbsteinschätzung und die eigene Achtsamkeit des Kindes fördern.“

Es geht darum, ein Gespür dafür zu haben, wo die ernsthaften Gefahren lauern, und diese auch einheitlich zu definieren. Als Beispiel verweist Inke Ruhe auf die vielen neuen Betreuungseinrichtungen für Kinder wie etwa Tagesmütter. „Wenn wir dort Sicherheit und kindgerechte Ausstattungen verlangen, müssen wir zunächst verbindlich klären, was damit eigentlich gemeint ist.“ Geschehen sei das bislang noch nicht. Es gibt Vorstellungen davon, aber kaum einheitliche Vorgaben. „Die Kinderbetreuung ist zur Zeit eines unserer großen Themen“, sagt Ruhe. Tagesmütter werden immer populärer, die Anzahl dieser Einrichtungen steigt. Die Bundesarbeitsgemeinschaft „Mehr Sicherheit für Kinder e.V.” arbeitet gegenwärtig Kriterien aus, wie kindgerechter Wohnraum auszusehen hat oder nach welchen Vorgaben Unfallprävention geleistet werden kann.

Daneben sind auch die Medien im Fokus der Bundesarbeitsgemeinschaft. „Da beobachten wir bedenkliche Entwicklungen, etwa Werbespots, in denen das Kind in der Küche vergnügt neben der Mutter auf der Arbeitsplatte sitzt, gleich neben dem Herd mit dampfenden Töpfen.“ Dass dies nicht nur gemütlich, sondern vor allem sehr gefährlich ist, fehle dann aber in der Botschaft. Auch so ein Fall, der sich zu einem typischen Unfall von Kindern zu Hause entwickeln könnte.

Anzahl der Unfälle von Kindern unter 15 Jahren im Jahr 2012 in Deutschland: 1.700.000
Die drei häufigsten Unfallursachen bei privat versicherten Kindern im Jahr 2012:
1. Stürze (36%)
2. Sport außer Fußball (17%)
3. Fußball (8%)
Anteil der Eltern, deren Kinder das Seepferdchen-Abzeichen haben, die glauben, dass ihre Kinder gute bis sehr gute Schwimmer sind: 70%
Geforderte Schwimmstrecke für das Erreichen des Seepferdchen-Abzeichens: 25m
Anteil der Eltern, die die Küche als große Gefahrenquelle sehen: 40%
Anteil der Eltern, die ihre unter fünfjährigen Kinder allein in der Küche lassen: 41%
Anzahl der Kinder, die sich in der EU jährlich an Spielzeug verletzen: 57.000